Ansprache anlässlich der Bundesfeier 2022
Pratteln, Schönenbuch und Liestal
Ich erinnere mich gerne daran, wie wir als Kinder den 1. August feierten: Wir haben Würste gebrätelt und später gab es eine Feier auf dem Gemeindeplatz mit Nationalhymne und Feuerwerk, manchmal auch in den Ferien am Brienzersee. Später kamen dann die Pyramiden-Vorführungen des Turnvereins Buus dazu, die seit Jahrzehnten an der 1. August-Feier aufgeführt werden: Jugi und Aktive auf Barren und Leitern, beleuchtet von bengalischem Feuer. Wer das einmal gesehen hat, vergisst es nicht mehr. Sicher haben auch Sie wenn Sie «1. August» hören sofort einen kleinen Film im Kopf.
Erinnerungen – Bräuche – Traditionen auf der einen,
Ideen – Überraschungen – Innovationen auf der anderen Seite!
Beides brauchen wir für das Bestehen und für die Entwicklung unseres Gemeinwesens.
Wir feiern heute den Geburtstag der Eidgenossenschaft oder besser gesagt den Geburtstag der modernen Schweiz. 1.-August-Feiern gibt es noch nicht so lange, erst seit dem späten 19. Jahrhundert: Der schweizerische Bundesstaat geht auf die Jahre 1848 resp. 1874 zurück. Keine Gemeinschaft will bei null beginnen, alle haben das Bedürfnis nach Daten und Ereignissen aus der Vergangenheit, die von Herkunft und gemeinsamer Geschichte erzählen. Die Eidgenossenschaft der Innerschweizer Urkantone geht ungefähr auf das Jahr 1300 zurück. So legte der junge Bundesstaat den 1. August 1291 als Gründungsdatum fest und freute sich darauf, 1891 bereits den 600. Geburtstag der Schweiz feiern zu können. Wir haben alle ein Bedürfnis nach Traditionen, bewusst oder unbewusst, denn sie helfen uns bei der grossen Orientierung in Raum und Zeit.
«Ein tiefer Sinn wohnt in den alten Bräuchen, man muss sie ehren.»
Der deutsche Dichter Friedrich Schiller lebte von 1759 bis 1805 und befasste sich als Arzt, Dichter, Philosoph und Historiker mit der Geschichte der europäischen Völker. Er schöpfte daraus Erkenntnisse für die politische Gegenwart und Zukunft. Das Zitat stammt aus dem Stück «Maria Stuart», das im traditionsbewussten Britannien spielt. Es geht dabei um den Machtkampf und auch um die inneren Kämpfe zweier Königinnen, zweier starker Frauen in gar nicht traditionellen Rollen, es geht auch um Leben und Tod, um Recht und Unrecht. «Ein tiefer Sinn wohnt in den alten Bräuchen, man muss sie ehren», sagt Maria Stuart. Seit uralten Zeiten war nämlich überliefert, dass vor Gericht Engländer nicht gegen Schotten und Schotten nicht gegen Engländer aussagen durften, weil sie gegeneinander nicht gerecht sein konnten. Auf diese Tradition berief sich die Schottin Maria Stuart.
Keine fremden Zeugen, keine fremden Richter! Tönt das nicht tief auch in unserer Schweizer Seele an? Länder, Völker, Gemeinschaften schöpfen aus ihren Traditionen Sicherheit und Verbundenheit.
Wir haben ein Bedürfnis nach Sicherheit, doch wir haben zugleich auch das Bedürfnis nach Freiheit.
«Das zähe Festhalten am Herkommen ist etwas ebenso Gewaltsames wie eine Neuerung, und diejenigen, welche die alte Zeit zu sehr verehren, sind nur ein Spott der neuen.»
Dieses Zitat stammt von Roger Bacon, einem englischen Franziskanermönch, Naturwissenschaftler und Philosoph. Auch er war wie Schiller ein vielseitiger Gelehrter. Er lebte aber nicht etwa im 20. Jahrhundert, sondern ungefähr 1220 – 1290, also zur Zeit des Rütlischwurs und des Bundesbriefs. Schon vor 800 Jahren waren Erinnerungen und Ideen, Bräuche und Überraschungen, Tradition und Innovation Gegenstücke, die sich ergänzen. Schon damals war klar, dass das Bewahren der Asche kein Ziel sein konnte, sondern das Weitergeben der Glut lebendiger Traditionen.
Jede Tradition hat irgendeinmal als Neuheit begonnen. So wie der 1. August am Ende des 19. Jahrhunderts, die Fasnacht in ihrer heutigen Form am Anfang des 20. Jahrhunderts, das heutige Trachtenwesen in den 1930er Jahren. Manche Traditionen überdauern viele Jahrhunderte, wie etwa der Liestaler Banntag, der dieses Jahr bereits zum 615. Mal stattgefunden hat.
Wir können also sagen:
- Traditionen wecken und bewahren positive gemeinsame Gefühle.
- Traditionen überdauern mehr Generationen als heute leben, sie verbinden uns in direkter Linie mit unserer ferneren Vergangenheit.
- Traditionen entwickeln sich laufend weiter und bleiben damit lebendig.
Brauchtum hat nebst der identitätsstiftenden inneren auch eine integrierende äussere Kraft: Wer neu in eine Gemeinschaft kommt und sich mit den Leuten und ihren Bräuchen vertraut macht, wer zuhört und zuschaut, lernt ohne Worte verstehen und sich einzugliedern. Respekt vor den Traditionen des neuen Wohnorts, der Region, des Landes, in dem wir zu Gast sind, ist die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Zusammenleben.
Die Schweiz ist weltoffen, ist das gerade im Vergleich mit anderen Ländern seit Jahrhunderten. Doch Weltoffenheit heisst nicht Selbstaufgabe! Wenn wir alles, was die Schweiz emotional ausmacht, über Bord werfen, wenn wir so sein wollen, wie alle andern auf der Welt auch sind, werden wir gar nichts mehr sein als gesichtslose Masse.
Hier zeigt sich der Mehrwert lebendiger Traditionen. Sie entstehen aus dem Austausch von Altem und Neuem, von Vertrautem und Fremdem. Sie verbinden im Heute das Gestern mit dem Morgen.
Der Kanton Basel-Landschaft hat in seiner Geschichte immer wieder vom internationalen Austausch profitieren können. Der deutsche Unternehmer Carl Christian Friedrich Glenck entdeckte 1836 bei Muttenz eine Steinsalzlagerstätte und gründete im Jahre darauf die Saline Schweizerhalle. Der Salzfund war enorm wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung des Kantons Baselland, der damals der jüngste und auch der ärmste Kanton war. Aus den Lieferungen gab es satte Gewinne und diese haben die Staatskasse des Kanton Basel-Landschaft gefüllt. Bis 1892 mussten die Baselbieter keine Staatssteuer bezahlen. Und die ganze Schweiz profitierte, weil sie nach jahrhundertelanger Abhängigkeit vom Ausland nun kein teures Salz mehr importieren musste.
Wie Sie vielleicht wissen, müssen wir heute im Baselbiet zwar auch Steuern zahlen. Doch es geht es uns gut dabei und wir können stolz sein auf die Schweiz und das Baselbiet. Innovation und Tradition spielen bei uns perfekt zusammen und schon bald, am Wochenende vom 26. bis 28. August, wird am östlichen Ortsrand von Pratteln das grösste Sport- und Kulturereignis der Schweiz stattfinden, das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest, unser ESAF Pratteln im Baselbiet.
Das ESAF Pratteln im Baselbiet ist nicht nur eine grosse Plattform für die Werte des Schwingens, des Steinstossens und des Hornussens, sondern auch für die Volkskultur ganz allgemein: Das mehrjährige Programm «Mini Tradition läbt» will die lebendigen Traditionen sichtbar machen. Ziel ist, die ehrenamtlichen Strukturen in den Vereinen und Verbänden der Volkskultur und des Sports zu stärken. Dies ist eine der nachhaltigen Wirkungen, welche wir mit dem ESAF anstreben. Denn lebendige Traditionen haben eine Zukunft, sie sind mehr als Selbstzweck der Vereinsmitglieder, sie sind im ländlichen Gebiet und in der Agglomeration wichtige Stützen des Gemeinschaftslebens. Gelebte Traditionen bereichern auch das kulturelle Leben der Städte, sie machen auch dort immer wieder bewusst, dass die Städte Teil der Schweiz sind und ihren Wohlstand auch dieser Tatsache verdanken.
Wir wollen Ende August das Baselbiet und unsere ganze Region nördlich des Jura der Schweiz und dem benachbarten Ausland im besten Licht zeigen. Die Gemeinde Pratteln engagiert sich wie die ganze Region sehr stark. Das Projekt «Tracht lacht – Brauchtum verbindet» beispielsweise hat zum Ziel, hundert Trachtenpaare aus allen Nationen, die in Pratteln vertreten sind, am Festumzug zu zeigen. Mir ist etwas aufgefallen: Wer eine richtige, traditionelle Tracht anzieht, fühlt sich sofort anders, verbunden, aufrecht, bewusst für Geschichte und Gegenwart. Auch mir und den anderen Mitgliedern des ESAF-Präsidialausschusses und unseren zwölf Ehrendamen geht es so, wenn wir in der Tracht dastehen: Ehrenvoll, heimatverbunden, dankbar und stolz, dass wir ein Teil der gemeinsamen Volkskultur sein dürfen.
Unsere heutige Schweiz, ist wohl die beste, freiheitlichste, sicherste und friedlichste Gesellschaft, in der Menschen je leben durften. Dafür sind wir gerade am 1. August dankbar, und wir alle wissen auch, dass das nicht selbstverständlich ist. Arbeiten wir also selbstbewusst immer wieder daran, dass die Schweiz anders bleibt, dass sie die Schweiz bleibt!
Pflegen wir lebendige Erinnerungen, Bräuche und Traditionen auf der einen Seite, und fördern wir Ideen, Überraschungen und Innovationen auf der anderen Seite! Wir alle, unsere Gemeinde, das Baselbiet und die Schweiz brauchen beides.